Thüringer Verfassungsgericht Alterspräsident muss Thüringer Landtag abstimmen lassen
Nach einer chaotischen Landtagssitzung haben Thüringens Verfassungsrichter dem Alterspräsidenten von der AfD eine Art Regel-Korsett verpasst. Für die Fortsetzung der Sitzung heute gibt das Gericht klare Anweisungen.
Was hat der Verfassungsgerichtshof entschieden?
Der Thüringer Verfassungsgerichtshof in Weimar hat in einem Beschluss vom Freitagabend sehr deutlich dargelegt, dass der Alterspräsident Jürgen Treutler von der AfD seine Kompetenzen in der ersten Landtagssitzung am Donnerstag überschritten und die Rechte der Abgeordneten mehrfach verletzt hat. Er hätte in der Sitzung die Beschlussfähigkeit des Parlaments feststellen müssen und die Abgeordneten danach über die vorläufige Tagesordnung abstimmen lassen müssen. Für die Fortführung der Sitzung gibt es nun klare Vorgaben der Richterinnen und Richter.
Worüber wurde in der ersten Landtagssitzung am Donnerstag gestritten?
Eigentlich dreht sich der Streit um die Wahl des Landtagspräsidenten oder der Landtagspräsidentin. In der ersten Sitzung eines neu zusammengesetzten Landtags wird dieser oder diese gewählt, um den Landtag zu konstituieren. CDU und BSW hatten aber bereits im Vorfeld der Sitzung auf die Tagesordnung einen Antrag auf Änderung der Geschäftsordnung eingebracht, der sich mit der Wahl befasst. Erst danach sollte gewählt werden - nach neuen Regeln.
Alterspräsident Treutler (AfD), der die erste Sitzung eröffnet hat, wollte das aber nicht zulassen. Um eine Abstimmung darüber im Parlament zu verhindern, hat er es deshalb schon unterlassen, die Beschlussfähigkeit des Landtags festzustellen. Das hat die anderen Fraktionen aufgebracht, die immer wieder beantragt hatten, endlich die Beschlussfähigkeit festzustellen.
Der Thüringer Verfassungsgerichtshof hat nun in einer einstweiligen Anordnung den Alterspräsidenten angewiesen, zunächst die Abgeordneten mit Namen aufzurufen und sodann die Beschlussfähigkeit festzustellen. Findet dann die vorläufige Tagesordnung die Zustimmung der Mehrheit der Abgeordneten, wird über den Antrag von CDU und BSW abgestimmt.
Wer hat das Vorschlagsrecht für den oder die Landtagspräsidentin?
In der thüringischen Verfassung steht in Artikel 57 Absatz 1: "Der Landtag wählt aus seiner Mitte den Präsidenten, die Vizepräsidenten und die Schriftführer." Konkreter wird die Verfassung nicht: Sie schreibt also zum Beispiel nicht vor, aus welcher Fraktion der oder die Kandidatin kommen muss.
In der Geschäftsordnung des Landtags heißt es aber: "Die stärkste Fraktion schlägt ein Mitglied des Landtags für die Wahl" vor. Wenn der oder die keine Mehrheit erhält, so "können für weitere Wahlgänge neue Bewerberinnen beziehungsweise Bewerber vorgeschlagen werden", heißt es in der Geschäftsordnung weiter.
Die AfD ist wohl der Ansicht, dass nur sie als stärkste Fraktion das Vorschlagsrecht hat - also auch in weiteren Wahlrunden. Das sehen die anderen Fraktionen anders. Weil aber der Alterspräsident von der AfD kommt und möglicherweise keine anderen Bewerber zulassen könnte, wollen CDU und BSW die Änderung der Geschäftsordnung. Dort wollen sie statt der bisherigen Regel, die man so und so auslegen kann, den Wortlaut aus der Verfassung übernehmen. Der oder die Präsidentin soll also aus der Mitte des Landtags gewählt werden. Dies würde klarstellen: Jede Fraktion kann von Anfang an Kandidaten vorschlagen.
Kann man vor der Wahl des Landtagspräsidenten die Geschäftsordnung ändern?
Der Alterspräsident hatte sich klar positioniert: Er sei der Meinung, der Landtag könne die Geschäftsordnung nur ändern, wenn er konstituiert ist, also bereits ein Präsident oder eine Präsidentin gewählt ist. Der Thüringer Verfassungsgerichtshof hat Treutler nun klar gesagt, dass er damit falsch liegt.
Das Parlament hat ein Selbstorganisationsrecht, das sich aus der Verfassung ergibt. Das Parlament, also die Abgeordneten dürfen sich also die eigenen Regeln (die Geschäftsordnung) selbst geben. Und das sei jederzeit möglich, so die Richterinnen und Richter: "Die Thüringer Verfassung trifft keine Regelung zur Reihenfolge der einzelnen Konstituierungshandlungen. Die Verfassung gibt insbesondere nicht vor, dass die Wahl des Landtagspräsidenten noch vor dem Beschluss einer Geschäftsordnung zu erfolgen hat."
Zur Aufgabe des Alterspräsidenten führt das Gericht folgendes aus: "Er hat allein eine 'dienende Aufgabe' gegenüber dem Parlament, indem er die Handlungs- und Arbeitsfähigkeit des neu gewählten Landtags herbeiführt. Aus dieser Stellung folgt insbesondere, dass er weder zu einer Entscheidung über die Auslegung der Geschäftsordnung befugt ist noch Anträge des Plenums ablehnen darf."
Hat die AfD als stärkste Fraktion nicht das Recht auf den Landtagspräsidenten?
Nein. Aus der Verfassung ergibt sich dieses Recht nicht. Bisher steht zwar in der Geschäftsordnung, dass die stärkste Fraktion das erste Vorschlagsrecht hat. Aber diese Geschäftsordnung kann ein gewähltes Parlament eben jederzeit ändern. Das hat der Verfassungsgerichtshof in dem Eilverfahren jetzt deutlich gesagt.
In der Vergangenheit hat zwar immer die stärkste Fraktion das Vorschlagsrecht gehabt, es gibt aber keine Verpflichtung, dies so zu belassen. Aus der Verfassung für Thüringen ergebe sich weder ein ausschließliches Vorschlagsrecht einer einzelnen Fraktion noch ein Recht auf Wahl einer bestimmten Kandidatin oder eines Kandidaten.
"Dem Begriff der Wahl wohnt inne, eine Entscheidung treffen zu dürfen, das heißt sich auch gegen einen Kandidaten entscheiden zu können. (…) Die Freiheit der Wahl würde untergraben, wenn keine Auswahlmöglichkeiten und ein faktischer Zwang zur Zustimmung bestünde. Die Wahl wäre ihres Sinns entleert, wenn eine Fraktion das Recht auf ein bestimmtes Wahlergebnis hätte".
Diese freie Wahl und das Erfordernis einer Mehrheit folgt aus dem Demokratieprinzip. Das Bundesverfassungsgericht hatte das in ähnlichen Fällen bereits für den Bundestag entschieden.
Wie geht es jetzt weiter?
Der Thüringer Verfassungsgerichtshof hat dem Alterspräsidenten Treutler mit den einstweiligen Anordnungen eine klare Vorgehensweise aufgegeben. Zunächst muss er vorläufige Schriftführer ernennen. Im Anschluss ist er verpflichtet, die Namen der Abgeordneten aufzurufen und die Beschlussfähigkeit des Parlaments festzustellen. Dies hatten die anderen Fraktionen am Donnerstag immer wieder vehement gefordert.
Nach der Feststellung der Beschlussfähigkeit muss Treutler dann fragen, ob es Einwände gegen die vorläufige Tagesordnung gibt. Wenn dies der Fall ist, muss er diese zur Abstimmung bringen. Wird die Tagesordnung angenommen, muss der Alterspräsident dann die Sitzung nach dieser Tagesordnung fortsetzen. So wird also aller Voraussicht nach auch über den Antrag von CDU und BSW abgestimmt werden. Erst danach kommt es zur Wahl des Landtagspräsidenten oder der Landtagspräsidentin.
Am Samstagmorgen um 9.30 Uhr soll die Sitzung fortgeführt werden. Dann wird sich zeigen, wie die AfD und der Alterspräsident Treutler mit der Entscheidung umgehen werden. Wenn Treutler sich an die Vorgaben nicht halten sollte, könnte das Parlament ihn wohl mit der Mehrheit absetzen und einen neuen Sitzungsleiter wählen.
Hätte man die Geschäftsordnung nicht schon früher ändern können?
Der Eklat bei der ersten Sitzung des Landtags war vorhersehbar. Viele haben davor schon lange gewarnt. Und so hätte man sich bereits in der letzten Legislaturperiode auf die Änderung der Geschäftsordnung einigen können. Die Grünen in Thüringen hatten auch vorgeschlagen, die Geschäftsordnung so zu ändern, dass nicht der älteste, sondern der dienstälteste Abgeordnete die konstituierende Sitzung leitet. Eine solche Regel gibt es inzwischen im Bundestag. Die CDU-Fraktion in Thüringen wollte die Änderungen aber vor der Wahl noch nicht.